Wie wäre es?


Prof. Dr. Bettina Köhler | Kunsthistorikerin | Basel


Textbeitrag aus dem Katalog zur Ausstellung „Was geht? – Keramik Eva Koj und Britta Hansen“ | Museum Kellinghusen, 14. Juni – 1. September 2013
Katalog zur Ausstellung | PDF 3 MB »


Wie wäre es eigentlich, sich vorzustellen, dass eine Schale – Geschichten einfängt? Sie öffnet sich, dreht sich langsam wie eine Raumstation und empfängt Signale. Die Signale materialisieren sich; an den Wänden und im Boden, an der Außenseite und Innenseite des Gefäßes erscheinen Linien, sehr konkrete Linien, die Materie, der Ton, schon leicht erhärtet, wird zur Seite gedrängt, mal leichter, mal tiefer, die Linien sind dicker oder dünner, die Linien folgen der kreisenden Bewegung des Gefäßes, sie umspielen diese Bewegung aber auch, reißen aus, nach oben und unten, verdichten sich und plötzlich verstehen wir die Signale. Gefährliche Freiheit! Allerdings. Als Fliege in die Nähe dieses Katers zu gelangen, der äußerst kompakt und konzentriert in seinem Sesselchen Entspannung sucht, ausgerüstet mit einer Klatsche, die unmissverständlich gehalten wird, ist lebensbedrohlich. Freiheit! Stellen Sie sich doch nur vor, Sie selbst seien Teil der gesendeten Signale. Sie materia­lisieren sich im Lineamentum der Geschichte ‚Auf Tour’. Sie entstehen aus spiraligen quirligen Ritzungen, Sie spüren, wie Ihre kleine bockige Maschine – gerade eben noch unter Sie gezeichnet – auf Touren kommt. Sie wissen, Sie werden verwegen vom Rand der Schale in die Tiefe abtauchen, aber noch warten Sie. Sie genießen die Stille und das Gefühl, die Übersicht zu haben, über dieses schöne Tal der Schale, die sich so stolz aufspannt bis zum Horizont. Den Horizont des schwarzen Gefäßes, einen Horizont, an dem eine zitternde Linie kommende Erschütterungen andeutet, denn Sie werden genau die Mitte dieser Schale ergründen, geleitet durch zwei Pfeile, die auseinanderdriften, sich der komplexen Geometrie der Wandung anschmiegend. Sie aber sind schon am gegenüber­liegenden Hang angekommen. Von oben und von hinten betrachtet, könnten Sie nun auch ein Käfer sein, verpuppt in seinen Chitinpanzer. Sie beugen sich tief, denn Sie wollen weiter. Sie sind auf Tour, Ihre Freundin wartet. Immer fragt sie sich ‚Wie sehe ich aus’. Sie dreht sich in ihrer weißen Porzellanschale, breitet ihren Umhang aus, denn sie kann nicht anders, sie muss doch dem Pfau antworten, der sein dichtes Gefieder ihr gegenüber mit Goldtupfen aufblitzen lässt.

Wie wäre es! Natürlich ist eine Keramikschale keine Raumstation und die Ornamente und Geschichten kommen nicht aus dem All. Aber die Metapher, welche die Zusammenarbeit der Keramikerin Eva Koj mit der zeichnenden und malenden Künstlerin Britta Hansen in einem ersten Schritt vorstellen sollte, war einfach zu verführerisch.
Denn letztlich wissen wir nicht, wie die Geschichten, seien sie nun Mythologien, Alltagserlebnisse, Erzählungen oder Romane, eigentlich wirklich in die Welt der Bilder gekommen sind, aber wir wissen, dass ihre Bandbreite seit langer Zeit beschränkt ist: Liebe, Pracht, Macht, Mord, Treue, Argonautenfahrt, gemeinsam tafeln. Trotzdem wollen wir sie immer wieder sehen, die immer gleichen Geschichten, aber unserer Zeit angemessen, in einem zeichnenden Tonfall, der sie mit unserem Leben verbindet, so dass sie uns berühren, uns fokussieren, uns lächeln lassen. Woraus aber die Künstler den Funken der Veränderung schlagen, dass die alten Geschichten neu blitzen, wir wissen es nicht. Man versucht es zu verstehen und spricht von Inspiration, von Mimesis, von Nachahmung. Wir wissen auch nicht, wie es dazu kommt, dass eine uralte handwerkliche Technik und Kunst wie das Töpfern immer wieder neu interpretiert werden kann. Wir schöpfen frisches Wasser, wir bewahren kostbares Öl auf, wir arrangieren Orangen, wir essen Suppe, wir trinken Tee, wir stecken einen Strauß. Die Formen der Töpfe antworten seit Jahrtausenden auf diese Gesten, diese Tätigkeiten, diese Funktionen. Also wie geht das überhaupt: Wie kann man als Keramikerin die wunderbare Amphore der Griechen, ihren Krater, ihre Schale, ihren Skyphos verändern und warum wird es getan, wenn das Ganze doch so schön ist, eine wunderbare Verbindung von Material, Form, Erzählung, denn auch die Gefäße der Griechen sind ja bekanntlich Träger vieler Geschichten?

Der Philosoph Hegel sprach im neunzehnten Jahrhundert davon, dass die Mode über das Zeitliche das Recht ausübt, es jederzeit zu verändern. Die Veränderung aber ist Ausdruck dessen, dass wir uns wandeln und mit der Zeit gehen wollen und müssen. Die Mode wäre insofern ‚ein Frischmachen’, ein Ausdruck der Lebendigkeit, gerade dessen, was wichtig war und immer wieder in die Gegenwart geholt werden muss.
Sie wäre also nicht radikaler Bruch und schneller Wechsel, sondern sie sorgt dafür, dass wir – wie es Ben Siebenrock in einem schönen Text zu Britta Hansens und Eva Kojs Zusammenarbeit geschrieben hat, dem der vorliegende Text auch die Verbindung zum All-Raum verdankt – „durch das geschichtliche Hintergrundrauschen die Vergangenheit bis zu den ersten keramischen Äußerungen der Menschheit zurückverfolgen“.

In diesem Sinne töpfern und zeichnen Eva Koj und Britta Hansen in dieser Arbeit gemeinsam daran, wichtige und schöne und witzige und zweckmäßige Dinge in die Gegenwart zu holen und in einer Kollektion zu vereinen. Eva Koj, indem sie die Formen zwar modern reduziert und dem Material – zumindest in dieser Kollektion – an keiner Stelle erlaubt, Sprünge oder Falten oder Risse zu bilden, zugleich aber auch, indem sie die Silhouetten dehnt und zieht, Grenzen der Proportion auf ruhige Weise austestet. Der Skyphos spannt seine Wände von Grund her in einer sanfteren Steigung als seine antiken Verwandten auf, die Henkel sind verschwunden: Wir nehmen das ganze Gefäß in die Hände, umfassen es. Auch die hoch aufragende Vase, deren Volumen bereits knapp über dem Boden, ohne noch einen Fuß aufzuweisen, geweitet wird, um dann in einer leicht zunehmenden Ausdehnung kontinuierlich steil zu steigen, fassen wir dort, wo wir das Gleichgewicht spüren: eher im oberen Drittel; eine versteckte Referenz an den goldenen Schnitt? Möglich, denn die Vase, die dem Kater sein Zuhause gibt, weist genau dort, im oberen Drittel, einen Einzug auf, bevor sich die Wand noch einmal weitet, um dann in einer Bewegung zu enden, die eine traditionelle Lippe auf einleuchtende Weise ersetzt.

Die Ritztechnik wird ganz einfach verwendet, sie arbeitet mit der Färbung des Scherbens, hebt sich klar von der matten Schwärze der Engobe ab. Die weißen Porzellangefäße, die das Licht – wie auch schon ihre asiatischen Vorfahren – auf zarte Weise ansammeln und der Kollektion hell schimmernde Inseln beifügen, werden gleichfalls geritzt und die Linien mit einer eingebrannten Schwärze versehen, zu der weitere flüchtige Farben treten können. Und das sparsam eingesetzte Gold natürlich. Eine Fliege, eine Pfütze, ein Pfauenauge, ein Fleck, der vielerlei Assoziationen auslösen kann, Bilder aufruft zwischen Ornament, Muster, Tier oder Hand.

So kann man die Art, wie das Gold, einmal abstrakt, einmal konkret oder zwischen beiden Aggregaten schwankend, die Zeichnungen aufhellt als Pars pro Toto für Britta Hansen’s künstlerischen Ansatz verstehen, für ihre Handschrift, die die Geschichten, nach denen wir uns sehnen, neu blitzen lassen. Die Szenerien mit verschworenen Tiergemeinschaften, mit eitlen Nackten, mit dem von Trauer erfasstem weinenden Krokodil vor dem Therapeuten werden durch Linien und Schraffuren gebildet, die in ihrem Kern etwas darstellen, an ihren Rändern aber immer in das Ornament wechseln. Und das Ornament als abstrakte Figur verbindet sich mit der räumlichen Geometrie des Gefäßes, umspielt sie und unterstützt damit die Freude an der Wahrnehmung zum Beispiel eines perfekt gestreckten und gezogenen Randes. Auch der Kern der Szenerien selbst, die Erzählung, bleibt genügend abstrakt, um sich genau dort in der Form der Gefäße einnisten zu können, wo sie von der Rundung oder Flachheit, von der konvexen oder konkaven Schwellung profitiert: Sie gewinnt an Dynamik oder wird beruhigt. So verweben sich die Geschichten in den Raum der Keramik und strahlen in das Innere und das Äußere der Umgebung.
Eva Koj hat als Keramikerin für die Entstehung einer Um-Ge-bung aus Um-Drehungen ein klares, körperlich-ästhetisches Gefühl, sie tariert proportionale Spannungen der Bewegungen mit dem Material in der Entwicklung des Volumens, in der strikten Bestimmung der Silhouette präzise aus. Das erste Gefäß, das im Rahmen dieser Zusammenarbeit entstand, wird im Laufe eines Tages Begleitung gefunden haben, weitere Gefäße gesellten sich dazu, wurden nebeneinander gestellt, bildeten eine Gruppe, bilden nun eine Kollektion. Damit eine Kollektion überzeugt, muss ein lockerer und gleichwohl deut­licher Zusammenschluss von Ähnlichkeit und Differenz entstehen, in Zweckmäßigkeit und Schönheit gleichermaßen. Eine Kollektion bietet Unterschiede an, Vasen für größere und kleinere Sträuße, Blumen mit schwer nickenden Köpfen oder keck ragenden Zweigen, distanzierte Schalen, in denen eine Blüte schwimmen kann oder sich Obst häufen, großzügige Schalen, die sich horizontal weiten, in denen der Blick Ruhe findet oder ein Gegenstand, den man schätzt. Trotz dieser denkbar einsichtig gestalteten unterschiedlichen Zwecke ähneln sich die Silhouetten der Gefäße auf überraschende Weise: als würden sie sich gegenseitig betrachten und nach­ahmen, jedes will individuell sein, aber auch dem Nächsten ein Spiegel, der das Bild leicht verzerrt.

Und so zeigt Eva Koj in dieser Kollektion von Gefäßen, wie man Lust an der Entdeckung feiner Unterschiede bekommt, von der die Keramik lebt, wie man die Differenzen und Ähnlichkeit entdecken möchte, sich freut an Gewicht und Gleichgewicht im Hochnehmen und Hinstellen. Und sie hat mit einer stillen Zurücknahme der materiellen Präsenz des Scherbens Räume für die Erzählungen von Britta Hansen geschaffen, die nun durch die Ähnlichkeiten der Kollektion hindurch eilen können. Wer weiß, wohin die Signale dieser Zusammenarbeit funkeln.